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Nochmal Sokrates - Druckversion

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Nochmal Sokrates - Elektra Kataindrou - 07.07.2011 18:38

Hallo Kyra,

den von dir eröffneten, bereits geschlossenen Thread zu Sokrates´" Ich weiß, dass ich nichts weiß" möchte ich hier gerne noch etwas vertiefen, weil die Paradoxie dieses Satzes gerne verkannt wird.

Bei dem Sokrates zugeschriebenen - heute geht man von einer sophistischen Quelle aus – Zitat: „Ich weiß, dass ich nichts weiß – Οἶδα, μὴ εἰδέναι “ wird die Paradoxie der Aussage verkannt. Sokrates – oder welcher Autor auch immer – gibt damit nicht in aller Bescheidenheit seine Unwissenheit kund, sondern prangert die Anmaßung an, dass man etwas wissen könne.
Denn: Wenn ich weiß, dass ich nichts weiß, weiß ich ja doch etwas, nämlich, dass ich nichts weiß.Wenn ich aber nichts weiß, dann weiß ich auch nicht, dass ich nichts weiß und kann nicht behaupten, dass ich weiß, dass ich nichts weiß. Ich weiß also nicht, ob ich etwas weiß. Wenn ich das aber nicht weiß, dann weiß ich doch, dass ich es nicht weiß usw.
Der Verstand ist also wegen seiner Selbstbezüglichkeit kein Erkenntnismittel (was sich mit den Aussagen der modernen Naturwissenschaften deckt).

I
Die korrekte Übersetzung des obigen Schulzitates ( dazu unten II ) lautet: Ich weiß (bin mir bewusst), dass ich nicht weiß.
Das Paradoxon bleibt aber bei wörtlichem Verständnis.Wenn ich nicht weiß, dann kann ich auch nicht wissen, dass ich nicht weiß. Und wenn ich weiß, dass ich nicht weiß, dann weiß ich eben doch nicht nicht.
Sokrates wollte ausdrücken, dass die einzige Gewissheit darin bestehe, dass man sonst keine Gewissheit habe. Das setzt allerdings voraus, dass es etwas außerhalb des Bewusstseins gibt, das uns nur nicht bewusst ist.Das ist die „Idee“ Platons und das berühmt- berüchtigte „Ding an sich“ Kants.
Das ist aber zu kurz gedacht, denn auch, dass es etwas außerhalb des Bewusstseins gebe, sagt uns ja nur das Bewusstsein. Auch die Unterscheidung zwischen „innerhalb“ und „außerhalb“ ist ein Konstrukt des Bewusstseins. Auch die Vorstellung eines Konstruktes und eines Bewusstseins vermittelt uns nur das Bewusstsein. Auch die Vorstellung des Vermittelns usw.... Man gerät also in einen Denkzirkel aufgrund der Selbstbezüglichkeit unseres Denkens, das nicht über sich hinaus denken kann, wie ja auch Gödel speziell für die Mathematik herausgefunden hat : Kein System kann sich aus sich heraus verifizieren, da die hierzu erforderliche Metaebene fehlt.

Gerade deshalb gehen ja Metrodoros und Arkesilaos mit den folgenden Zitaten über Sokrates (Platon) hinaus:

Metródoros von Chios (4.Jh. v. Chr.):

„Nego scire nos sciamusne aliquid an nihil sciamus, ne id ipsum quidem nescire aut scire nos, nec omnino sitne aliquid an nihil sit.
Ich behaupte, dass wir nicht wissen, ob wir etwas wissen oder ob wir nichts wissen, und dass wir nicht einmal diese Behauptung nicht wissen oder wissen, noch ob überhaupt etwas existiert oder ob nichts existiert.“ ( Cicero, Lucullus 73 )

Arkesílaos ( ca.315 bis 241/40 v. Chr.):

„Arcesilas negabat esse quicquam quod sciri posset, ne illud quidem ipsum quod Socrates sibi reliquisset, ut nihil scire se scieret.
… behauptete Arkesilaos, dass es nichts gebe, das erkannt werden könne, nicht einmal das, was Sokrates sich für seine Person übriggelassen habe, nämlich, dass er wisse, dass er nichts wisse.“ ( Cicero, Academici libri 1.45 )

Fortsetzung folgt!


RE: Nochmal Sokrates - Elektra Kataindrou - 07.07.2011 18:40

Fortsetzung:

Auch Berkeley, Hegel und Fichte gingen sogar so weit, auch das eigene Sein zu verneinen (besser wäre wohl, darüber keine Aussagen machen zu können).

Die Lösung des Denkzirkels, der auf der zweiwertigen aristotelischen Logik beruht, dass etwas nur sein oder nicht sein könne (tertium non datur), hat die Quantenphysik mit ihrer mehrwertigen (komplementären) Logik gebracht, wonach sich Gegensätze ergänzen, insbesondere Sein und Nichtsein lediglich Erscheinungsformen (Grundsatz der Beobachtungsabhängigkeit) von etwas sind, was von unserem Bewusstsein nicht erfassbar ist ( zum Beispiel die Superposition unbeobachteter Elementarteilchen und die von Raum und Zeit unabhängige Fernwirkung verschränkter Teilchen).

Sokrates würde hierzu sagen, dahinter stecke halt etwas, was wir lediglich nicht erkennen können (die platonischen Ideen).Die vorsokratischen Skeptiker und die erwähnten Philosophen des strengen Idealismus dagegen hatten die erkenntnistheoretischen Konsequenzen aus den Experimenten der Quantenphysik bereits vorweggenommen, nämlich dass uns absolute Erkenntnisgrenzen gesetzt sind, weil unser Bewusstsein strukturdeterminiert ist (so auch die Ergebnisse der Kognitionswissenschaften), also auch über die Unerkennbarkeit keine bewusstseinsunabhängigen Aussagen getroffen werden können.

II
Im übrigen sagt Sokrates in der „Apologie“ bei Platon weder „Οἶδα, μὴ εἰδέναι“ noch „οἶδα οὐκ εἰδώς“, sondern . „ἀλλ΄οὗτος μὲν οἴεταί τι εἰδέναι οὐκ εἰδώς, ἐγὼ δὲ, ὥσπερ οὐν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι – er aber bildet sich ein, etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß, während ich, der ich nichts weiß, mir auch nichts zu wissen einbilde“ ( Ap. 21d ). Erst Cicero hat zur Verwirrung geführt.
In „Lucullus“(74) schreibt er : „....dubitari non possit quin Socrati nihil sit visum sciri posse: excepit unum tantum, scire se nihil se scire, nihil amplius – nicht bezweifelt werden kann, dass Sokrates glaubte, man könne nichts wissen; davon nahm er nur das eine aus, er wisse, dass er nichts wisse, nichts mehr.“.Und in „Academici libri“(1.45) zitiert er Arkesilaos : „..Arcesilas negabat esse quicquam quod sciri posset, ne illud quidem ipsum quod Socrates sibi reliquisset, ut nihil scire se scieret. - behauptete Arkesilaos, dass es nichts gebe, das erkannt werden könne, nicht einmal das, was Sokrates sich für seine Person übriggelassen habe, nämlich, dass er wisse, dass er nichts wisse.“
Auch das lateinische Schulzitat „Scio me nescire“ ist daher falsch (Es müßte lauten: Scio nihil scire)!

Nebenbei bemerkt trifft dies auch auf das berühmte „Non scholae, sed vitae discimus“ zu.Denn bei Seneca, Briefe an Luclius (106,12) lautet der Ausspruch gerade umgekehrt!

III

Zusammenfassung:

Wissen setzt einen bewusstseinsunabhängigen Gegenstand voraus. Darüber können wir jedoch keine Aussagen treffen, da auch die Annahme eines solchen objektiven Gegenstandes ein Bewusstseinsakt ist, ja bereits die Unterscheidung zwischen Subjektiv und Objektiv.

...und auf diese leichte Sommerkost ein Gläschen Ouzo, Γειά σας !


aber der da weiß nicht einmal dies ... - nomas - 07.07.2011 20:16

ich gestehe, ich bin hin & weg. Smile
beiträge solcher qualität sind absolute highlights.

allerdings muß ich auch zugeben, zwei arten von problemen bei diesem doppel-beitrag zu haben.
von der ersten art sind zwei schlichte sachliche einwände, angesichts des niveaus beider beiträge ziemlich irrelevant.
von der zweiten art ist mein unwissen, an wen ich mich wenden sollte, um meine sacheinwände zu besprechen.
an Elektra Kataindrou, laut userprofil "weiblich" und "ledig"
oder an
knut hacker, laut userprofil im Philosophie-Forum "Richter i. R.;Stud. Quantenph."?

sein dortiger beitrag sieht dem hiesigen nämlich sehr ähnlich.

noch etwas muß ich eingestehen: manchmal neige ich zur faulheit. also verzichte ich darauf, mich eigens im Philosophie-Forum anzumelden und gebe hier meine unmaßgeblichen sacheinwände zu protokoll:

[1]
die oft unangemessen hohe ehrfurcht von nicht-mathematikern vor der mathematik führt zu falschen aussagen wie
Zitat:Selbstbezüglichkeit unseres Denkens, das nicht über sich hinaus denken kann, wie ja auch Gödel speziell für die Mathematik herausgefunden hat : Kein System kann sich aus sich heraus verifizieren, da die hierzu erforderliche Metaebene fehlt.
in wirklichkeit haben die beiden gödelschen unvollständigkeitssätze zwar den zeitgenössischen mathematikern das - im hilbertschen programm zum ausdruck kommende - firmament zusammenbrechen lassen, haben jedoch mitnichten die ihnen von laien angedichtete bedeutung für "alle systeme". nein, sie beziehen sich lediglich auf spezielle mathematische systeme, nämlich (beim ersten unvollständigkeitssatz) auf jedes formale System der Zahlen, das zumindest eine Theorie der Arithmetik der natürlichen Zahlen (ℕ) enthält (wikipedia).

[2]
Zitat:Auch das lateinische Schulzitat „Scio me nescire“ ist daher falsch
ja, nämlich falsches latein. das wort "me" gibt es nicht im lateinischen. da sokrates m.w. kein latein sprach, war da wohl ein übersetzer am werk, dessen latein-unterricht zulange zurücklag. also entweder "scio ne scire" oder "scio ut nescire", bittschön.


RE: Nochmal Sokrates - Elektra Kataindrou - 08.07.2011 18:35

Hallo Nomas,

die Sache mit Knut Hacker hat sich hoffentlich durch meine PN geklärt.

Vielen Dank für deine niveauvollen Einwände.Ich möchte dazu folgendes erwidern:

ad I:

Die beiden Unvollständigkeitssätze sind wohl verallgemeinerungsfähig, da sie zwar den Spezialfall des formalen Systems Mathematik betreffen, aber letztlich nichts anderes besagen als das Prinzip der Logik, wonach kein System sich aus sich selbst heraus beweisen kann.
Das hat auch Gödel so gesehen, indem er seinen ( als anthropomorph verunglückten ) ontologischen Gottesbeweis nicht transzendental, sondern phänomenologisch geführt hat.
Auch das „Münchhausentrilemma“ von Hans Albert zum Problem der Letztbegründungen besagt ja nichts anderes als die Gödelschen Unvollständigkeitssätze,
.

ad II:

„scio“ wird aber doch mit A.c.I konstruiert, also: „me nescire“ („ ich weiß mich nicht zu wissen“), nicht mit dem finalen „ut“ (beziehungsweise in der Verneinung „ne“)!

Nix für ungut!


RE: Nochmal Sokrates - nomas - 09.07.2011 22:12

(08.07.2011 18:35)Elektra Kataindrou schrieb:  Hallo Nomas,

die Sache mit Knut Hacker hat sich hoffentlich durch meine PN geklärt.
nein. behauptungen in einer PN sind nicht zwangsläufig wahr.

und sie ändern nichts daran, daß das profil
"Ελένη Καραΐνδρου", ach nein, "Ελέκτρα Καταΐνδρου, weiblich, ledig"
mit dem profil
"knut hacker, Richter im Ruhestand, Student der Quantenmechanik"
nicht sonderlich gut übereinstimmt. ich gehe davon aus, daß beide frei erfunden sind.
und ich halte es für bemerkenswert, daß beide im abstand von neun tagen exakt denselben beitrag in zwei verschiedenen foren schreiben.


fehldeutung der gödelschen unvollständigkeitssätze - nomas - 09.07.2011 23:31

(08.07.2011 18:35)Elektra Kataindrou schrieb:  ad I:

Die beiden Unvollständigkeitssätze sind wohl verallgemeinerungsfähig,
mir ist lediglich eine verallgemeinerung des zweiten gödelschen unvollständigkeitssatzes zu ohr gekommen, das ist der satz von Löb.

Zitat:da sie zwar den Spezialfall des formalen Systems Mathematik betreffen,
die mathematik ist kein formales system. daß sie das sei, war eben das ziel des hilbertschen programms, das sich aufgrund der gödelschen unvollständigkeitssätze als unerreichbar erwies.

Zitat:aber letztlich nichts anderes besagen als das Prinzip der Logik, wonach kein System sich aus sich selbst heraus beweisen kann.
welche logik ist hier gemeint? die mathematische logik? dazu gehören auch die beweistheorie und die berechenbarkeitstheorie, für die natürlich die gödelschen unvollständigkeitssätze von bedeutung sind. oder irgendeine der philosophischen logiken?
es ist eine verbreitete fehlmeinung, daß alle theorien der mathematik unvollständig seien. jedoch ist z.b. die theorie der algebraisch abgeschlossenen Körper von Charakteristik p vollständig und damit entscheidbar. demnach gilt für diese theorie auch nicht, daß sie nicht "aus sich selbst heraus bewiesen" werden könne. folglich kann es sich bei der aussage "kein system kann sich aus sich selbst heraus beweisen" auch nicht um ein "prinzip der logik" handeln.

Zitat:Das hat auch Gödel so gesehen, indem er seinen ( als anthropomorph verunglückten ) ontologischen Gottesbeweis nicht transzendental, sondern phänomenologisch geführt hat.
"gottesbeweise" haben nichts mit wissenschaft und schon gar nichts mit mathematik zu tun.
wissenschaft zeichnet sich durch falsifierbarkeit aus. die ist bei "gottesbeweisen" oder "gotteswiderlegungen" aber prinzipiell nicht gegeben.

Zitat:Auch das „Münchhausentrilemma“ von Hans Albert zum Problem der Letztbegründungen besagt ja nichts anderes als die Gödelschen Unvollständigkeitssätze,
hier werden philosophie und mathematik unzulässig vermischt. philosophie ist nie ein formales system gewesen und wird es auch niemals sein. die gödelschen unvollständigkeitssätze beziehen sich jedoch ausschließlich auf formale systeme innerhalb der mathematik.


"nichts wissen" und "nicht wissen" - nomas - 10.07.2011 00:19

(08.07.2011 18:35)Elektra Kataindrou schrieb:  ad II:

„scio“ wird aber doch mit A.c.I konstruiert, also: „me nescire“ („ ich weiß mich nicht zu wissen“), nicht mit dem finalen „ut“ (beziehungsweise in der Verneinung „ne“)!
scire kann mit ACI konstruiert werden, kann aber auch von finalsätzen mit ut oder ne gefolgt werden.

ich habe dazugelernt: anscheinend kursiert tatsächlich die formulierung scio me nescire herum; habe sie aber nur auf der englischen wikipedia-seite gefunden. dort, wie auf der deutschen wikipedia-seite, wird auch erklärt, inwiefern die verbreiteten deutschen, englischen und lateinischen formulierungen fehlübersetzungen des griechischen originals bei Platon sind.


korrektur - nomas - 10.07.2011 12:39

(07.07.2011 20:16)nomas schrieb:  
Zitat:Auch das lateinische Schulzitat „Scio me nescire“ ist daher falsch
ja, nämlich falsches latein. das wort "me" gibt es nicht im lateinischen. da sokrates m.w. kein latein sprach, war da wohl ein übersetzer am werk, dessen latein-unterricht zulange zurücklag. also entweder "scio ne scire" oder "scio ut nescire", bittschön.

nur, um sicherzustellen, daß hier niemand etwas falsches aufschnappt und weitergibt:
finalsätze mit ut ("daß") und ne ("daß nicht") erfordern den konjunktiv.
also ich weiß, daß ich nicht weiß = scio ne sciam oder = scio ut nesciam.