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Gr. Melancholie - Druckversion

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Gr. Melancholie - Elektra Kataindrou - 21.04.2011 18:28

Alt-und neugriechische Melancholie

Wer einmal das Alltagsleben der Griechen kennengelernt hat, dem wird klar, dass die Tragödie nur in diesem Volk mit seiner wohl einzigartigen Gefühlstiefe entstanden sein konnte.

Ihre „Lieblingsstimmung“ bezeichnen die heutigen Griechen als καϋμός, das „Brennen“, das verzehrt und zugleich Licht bringt. Diese Stimmung kann nur unzureichend mit dem griechischen Kunstwort „Melancholie“ ( „Schwarzgalligkeit“), gleichbedeutend mit Schwermut, übersetzt werden, denn der Grieche leidet nicht an seiner Grundstimmungslage.

Diese kommt vor allem in der griechischen Musik zum Ausdruck. Nicht von ungefähr heißt das Lied im Neugriechischen „τραγοῦδι(ον)“ = „Tragödchen“.

Hier einige Beispiele:

http://www.youtube.com/watch?v=Yyk-OJtd6zU&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=XgzPOyWEVK4

http://www.youtube.com/watch?v=lCjdP2mjmeI&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=rC63Kvh-tlo&feature=related

Herzzerreißend sind insbesondere die μοιρολόγια, ἐπιτραπέζια, κλέφτικα, ντόινες und ἀμανέδες.
Als Wasilis Tsitsanis 1949 seinen Ζεϊμπέκικος “Συννεφιασμένη Κυριακή” herausbrachte, kam es auf dem gesamten Balkan und im Vorderen Orient zu einer Selbstmordwelle ( Ioannis Zelepos, Rebetiko S.84; Watzlawick, Vom Schlechten des Guten, S. 108 ).


Diese Grundstimmung herrschte offensichtlich bereits bei den alten Griechen, ist also nicht erst aufgrund historischer Verknüpfungen mit dem Orient (angefangen vom Indienfeldzug Alexanders des Großen über das tausendjähriges Byzantinische Reich bis zur fünfhundertjährigen osmanischen Besetzung; die Verwandtschaft der griechischen Musik mit der arabischen, südbalkanesischen, türkischen, persischen, kaukasischen und indischen ist unüberhörbar) und dem Slawentum übernommen wurden.
Schon Aristoteles ( Problémata, 30,1, p.953 a 10) schrieb:
¨ πάντες ὅσοι περιττοὶ γεγόνασιν ἄνδρες, ἢ κατὰ φιλοσοφίαν, ἢ πολιτικήν, ἢ ποίησιν, ἢ τέχνας, φαίνονται μελαγχολικοὶ ὄντες¨ - „Alle Menschen, die sich ausgezeichnet haben, sei es in der Philosophie, in der Politik, in der Dichtkunst oder in den bildenden Künsten, scheinen melancholisch zu sein.“ (Aristoteles, Problémata, 30,1, p.953 a 10)


:


RE: Gr. Melancholie - Elektra Kataindrou - 21.04.2011 18:34

Ich erlaube mir, meinen Beitrag über gr. Melancholie fortzusetzen und zur Diskussion zu stellen :


Auch insbesondere die folgenden altegriechischen Zitate belegen die Tradition griechischer Melancholie

Der Waldgott Seilenós gegenüber dem phrygischen König Midas:

„Elendes Eintagsgeschlecht der Mühsal und der Not, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich ersprießlicher ist. Denn in Unkenntnis des eigenen Elends verstreicht das Leben am leidlosesten. Das Allerbeste nämlich ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich, nachdem du einmal geboren bist, möglichst bald zu sterben.“( Aristoteles, Eudemos, Fr 44 Rose; Cicero , Gespräche in Tusculum, 1.Buch,114f )

Theognis ( 495?-428 v.Chr..):

„ Πάντων μὲν μὴ φῦναι ἐπιχθονίοισιν ἄριστον
μηδ' ἐσιδεῖν αὐγὰς ὀξέος ἠελίου
φύντα δ' ὅπως ὤκιστα πύλας Ἅιδαο περῆσαι
καὶ κεῖσθαι πολλὴν γῆν ἐπαμησάμενον.¨

„Von allem ist, nicht geboren zu werden, für die Erdbewohner am besten,
und nicht zu erblicken die Strahlen der hellen Sonne,
geboren aber möglichst schnell die Pforten des Hades zu erreichen, und im Grab zu liegen, nachdem man viel Erde auf sich gehäuft hat.“

Sophokles (497/96-468 v.Chr.; Ödipus auf Kolonós, V. 1224 ff):

„μὴ φῦναι τὸν ἅπαντα νι-
κᾷ λόγον · τὸ δ' , ἐπεὶ φανῇ,
βῆναι κεῖσ' ὁπόθεν περ ἥ-
κει πολὺ δεύτερον ὡς τάχιστα .”

„Nicht geboren zu sein, das geht
über alles; doch, wenn du lebst,
ist das zweite, so schnell du kannst,
hinzugelangen, wo du kamest“

Euripides (ca.480-406 v.Chr.; Cresphontes; bei Plutarch in : De audiendis poetis, cap. 14, p. 36 f. ) :

„Τόν δ' αὖ θάνοντα καὶ πόνων πεπαύμενον
Χαίροντας εὐφήμοντας ἐκπέμπειν δόμων.”

„Geborene zu beklagen, weil viel Schlimmem sie/ entgegengehen, aber die Gestorbenen /mit Freude zu geleiten und mit Segnungen,/ weil sie so vielen Leiden jetzt entronnen sind“

Aischylos (525-456 v.Chr.; Stob. Anth. IV 53.17 – Hense V. 1102 ):

„Ζοῆς πονηρᾶς θάνατος αἱρετώτερος ·
τὸ μὴ γενέσθαι δ' ἐστὶν ἢ πεφυκέναι
κρεῖσσον κακῶς πάσχοντα.”


„Mühseligem Leben vorzuziehen ist der Tod
Und nicht geboren besser als geboren sein
Zu schlimmer Not und Qual.“

Bakchylides (505-450 v.Chr.):

„...θνάτοισι μὴ φῦναι φέριστον
μηδ' ἀελίου προσιδεῖν φέγγος.”

„Für die Sterblichen ist, nicht geboren zu werden, das Beste
und nicht der Sonne Licht zu schauen.“



Empedokles ( 483 – 424 v.Chr.):

„οἴμοι ὅτι οὐ πρόσθεν με διώλεσε νηλεὲς ἦμαρ”

„Weh´ mir, dass mich nicht früher vernichtete der unentrinnbare Tag!“
( Porphyr. De abst. II 31 )


Herodot (490/80-ca.424 v.Chr.):

„ Διέδεξέ τε ἐν τούτοισι ὁ θεός, ὡς ἄμεινον εἴη ἀνθρώπῳ τεθνάναι ἢ ζῆν.”

„Es zeigte an diesen der Gott, dass es besser sei für einen Menschen, tot zu sein, statt zu leben“

Herodot berichtete von der Sitte der Thraker, einen Neugeborenen mit Wehklagen zu begrüßen und ihm die zu erwartenden Übel zu erzählen, die Toten aber mit Freude und Scherz zu bestatten, weil sie das große Labyrinth der Leiden hinter sich hätten.

Diogenes ( ca. 391/90 – 323 v. Chr. ) :

„Wenn Du es richtig überlegst, so müsstest Du den Neugeborenen beklagen, denn ihm steht viel Ungemach bevor, doch wer, erlöst vom Schmerz, begraben wird, den preise selig und sei froh.“ ( Max. Conf. 36, 20 = G. 296 )

Heraklit ( 544 – 483 v.Chr.):

¨ Ἡράκλειτος γοῦν κακίζων φαίνεται τὴν γένεσιν, ἐπειδὰν φῆι· γενόμενοι ζώειν ἐθέλουσι μόρους τ' ἔχειν, μᾶλλον δὲ ἀναπαύεσθαι, καὶ παῖδες καταλείπουσιν μόρους γενέσθαι.¨

“ Heraklit scheint die Geburt als ein Unglück zu betrachten, wenn er sagt: Wann sie geboren sind, haben sie Willen, zu leben und dadurch ihr Todeslos zu haben – oder vielmehr auszuruhen –, und sie hinterlassen Kinder, dass wieder Todeslose entstehen.“ ( Clem. Strom. III 14; II 201, 23 )

Epikur (341-271/70 v.Chr.) spricht vom „tödlichen Gift des Geborenseins “( „θανάσιμον...τὸ τῆς γενέσεως φάρμακον”)
:


RE: Gr. Melancholie - Elektra Kataindrou - 21.04.2011 18:38

Bitte Moderator, erlaube mir eine Letzte Fortsetzung, da sie unbedingt dazugehört! Wird künftig nie mehr vorkommen!

Zurück zur griechischen Musik im Besonderen:

Griechische Musik jeder Stilrichtung schießt unmittelbar in die Seele oder/und die Beine.Wer nicht gänzlich unmusikalisch ist und einmal die Musik gehört hat, die die Griechen hören, wird davon niemals mehr loskommen. Der Komponist Carl Orff - der einmal gesagt hat, dass der kurzlebigste griechische Tagesschlager mehr Musikalität berge als die gesamte europäische Klassik - hat dies als Sirenen-Syndrom bezeichnet.Typisch für die griechische Musik – wie auch für die Musik des Balkans, des vorderen Orients und Indiens (des gesamten ehemaligen alexandrinischen Reiches) – sind das modale Tonsystem,die reichen musikalischen Verzierungen und die Rhythmusbetontheit. In der dimotiki mousiki beeindrucken vor allem die hybriden Improvisationen und die herzzerreißende Melancholie der epitrapezia, klephtika , doines, moirologia und amanédes. Das rebetiko fasziniert durch die streng überbetonten Rhythmen,das entechno tragoudi besticht durch die weichen, eingängigen und melancholischen Melodien...usw. Frappant ist z.B. die Ähnlichkeit eines taxims mit der indischen raga.
Schade, dass die griechische Musik bei uns nahezu völlig unbekannt ist. Den Touristen wird leider der Eindruck vermittelt, als handele es sich beim syrtaki um griechische Volksmusik.

Die griechische Musik dringt in ihrer bis zur Todessehnsucht reichenden Melancholie so tief in die Seele ein,dass sie traditionell von der „αναλία”- Selbstverletzungen mit dem Messer bis hin zum Selbstmord – begleitet wird, insbesondere beim beliebtesten Tanz, dem aus dem städtischen Untergrund stammenden „ζειμπέκικο” ( „Zeibekiko“,sprich: „ Se-ibékiko“), der in den Kneipen von Männern nach dem Zerschmettern des Trinkglases einzeln und allein adlergleich mit ausgebreiteten Armen, zu Boden – der immer wieder abgeklopft wird – gerichtetem Blick und freien, akrobatischen, springend , kreisend und liegend ausgeführten Bewegungsfiguren unter strenger Beobachtung niedergeknieter , im Rhythmus klatschender, vom Tanzenden mit den Beinen umschwungener Mitzecher im schleppenden, abgehackten 9/8 - Takt zelebriert wird.

Beim Zeibekikos handelte es sich ursprünglich um einen kleinasiatischen Kriegstanz.In seiner urbanisierten Form wurde er 1922 von den griechischen Flüchtlingen aus ihren kleinasiatischen Siedlungsgebieten (Smyrna = Izmir, Konstantinopel = Istanbul, Pontos = Schwarzmeergebiet ) in die Gettos von Piräus und Thessaloniki tradiert.


Übrigens wird den Musikanten dadurch Beifall gezollt, dass Teller auf die Bühne geschmissen werden,so dass die Musikanten knöcheltief in den Scherben versinken.Heute werden zu diesem Zwecke eigens billige Teller hergestellt, die man in den Lokalen bestellen kann.


RE: Gr. Melancholie - Guenther - 21.04.2011 19:39

Und was ist jetzt die Frage? Huh


RE: Gr. Melancholie - Elektra Kataindrou - 21.04.2011 19:44

(21.04.2011 19:39)Guenther schrieb:  Und was ist jetzt die Frage? Huh
Ob jemand das anders sieht. Es gibt ja das Klischee vom Syrtaki - Griechen!


RE: Gr. Melancholie - serriotissa - 25.04.2011 00:17

Die Reaktionen auf das Lied "finneasmeni kiriaki" finde ich zwar krass, aber die Gefühle die das Lied auslöst, kann ich gut verstehen. Solange ich verheiratet war, habe ich es ein paar Mal im Radio gehört. Mein Mann war schon ein paar Jahre tot, mein Sohn und ich fuhren an einem schönen Sommertag im offenen Auto vom Einkaufen heim und plötzlich höre ich auf der CD meines Sohnes dieses Lied wieder und ich konnte mich nicht beherrschen, fing an zu weinen, alles kam wieder hoch. Die dimotiko, als Beispiel epirotische Volksmusik, ist für europäische Ohren sehr gewöhnungsbedürftig, ich ergreife spätestens nach einer halben Stunde die Flucht. Wir beide lieben laika. Unser gemeinsamer Liebling ist Dimitris Mitropanos. Leider kann ich wenig griechisch, versuche mit dem Wörterbuch die Liedtexte zu verstehen. Oft benutze ich die Seite greek lyrics. Die Texte sind so unglaublich gut wie die Musik. Beim Rembetiko haben wir verschiedenen Geschmack. Manche Lieder die ich oft höre sind meinem halbgriechischen Sohn schon zu orientalisch. Dein Beitrag ist für mich sehr interessant, ich lerne immer noch dazu.
Das Tellerwerfen ist aber Geschichte, meines Wissens verboten, wurde durch Blumen werfen ersetzt. Ich lasse mich aber gerne von dir belehren.
Für heute liebe Grüße serriotissa


RE: Gr. Melancholie - serriotissa - 25.04.2011 12:51

Hallo Elektra,
es ist sicher gut, daß sich die Melancholie in der Musik ausdrücken kann. sie wird dadurch kanalisiert. Die Selbstmordrate ist bei den Griechen viel niedriger als bei den Deutschen. Die niedrigste Rate haben griechische Frauen und überraschend die übergewichtigen. Da in den Dörfern Frauen oft mehr Zeit mit anderen Frauen verbringen als mit dem Ehemann, haben sie wohl ein starkes Selbstbewusstsein, werden durch Freundinnen, die Familie oder die parea gestützt. Durch die Lieder habe ich manche griechische Worte gelernt, wie ponos, monaxia, trellos, farmaki usw. Und daß dauernd jemand verlassen wird, auf die Reise geht und weit weg ist. Was mich fasziniert sind politische Lieder. Dabei meine ich nicht Theodorakis Kampflieder aus der Diktatur, wie z.B. Imaste dio, imaste tris...sondern z.B. den Ohrwurm allou i thalassa allou to plio von Parios oder mana mou ellas von Dalaras. Oder o dromos aus der Diktaturzeit. Diese Lieder sind stark, nehmen Stellung, jeder versteht ohne daß zu Kampfparolen gegriffen wird. Was Melancholie und Einsamkeit angeht, darf es auch mal eine eher europäische Melodie sein dafür mit einem schönen Text wie "pio kali monaxia" von Parios.Entschuldige bitte wenn ich die Titel falsch schreibe, mein griechisch ist bescheiden und von der Grammatik habe ich keine Ahnung.
Bist du vom Kreis Drama bzw. deine Familie? Wir hatten dieses Jahr ein schönes Ostererlebnis. Die hiesige griechische Kirche ist ca. 1 km von unserem Haus entfernt. Wir haben noch nie etwas gehört in vielen Jahren. Da es am Samstag schön warm war konnte man die Fenster noch bis nach Mitternacht auflassen. Pünktlich um 24 Uhr hörten wir den griechischen Pfarrer so deutlich als stünde er neben uns mit "Christos anesti". Vermutlich war die Kirche übervoll und sie haben mit Lautsprecher nach draußen übertragen. Griechenlandfeeling pur.
Liebe Grüße patata


RE: Gr. Melancholie - Elektra Kataindrou - 25.04.2011 16:49

Hallo serriotissa,
stammte dein verstorbener Mann aus dem Kreis Drama? Warum nennst du dich " Frau aus Serres" ? Meine Eltern stammen aus einem kleinen Dorf bei Sidirókastro.
Auch ich liebe die politischen griechischen Songs,obwohl ich zu jung bin, um die große Zeit ihrer Entstehung miterlebt zu haben.So höre ich auch gern Manos Loisos und Panos Tzavellas. Und Theodorakis bewundere ich spätestens, seit ich seine Lebenserinnerungen über die Zeit, in der er gefoltert wurde, gelesen habe.
Das mit dem Tellerwerfen gegen Geld - früherer schmiss man ja auch die Schnapsgläser zu Boden und gegen die Wand, wie auch in den slawischen Staaten - ,gibt es heute nur noch in sündhaft teueren Touristenlokalen. Du hast recht, dass man sonst heute mit Plastikblumenköpfen wirft.
Deine ironische Selbstbezeichnung als "Kartoffel" spricht für deinen Humor. So alt kannst du doch gar nicht sein, wie du jung schreibst!
Ich habe mich wahnsinnig gefreut über dein Interesse über meine Ausführungen.Vielen Dank!
Ich sende dir ganz liebe Grüße
Elektra